Käthe Kollwitz und der Erste Weltkrieg – Nachlese zum Kellerhoff-Vortrag im Februar 2015


Wenn wir uns in diesem Jahr fragen, was Käthe Kollwitz uns auch 70 Jahre nach ihrem Tod, sagen kann, dann vielleicht das: man muss nicht verstehen, warum junge Männer in den Krieg ziehen. Aber man kann sich entschieden gegen den Krieg aussprechen – auch wenn man einen schmerzhaften Weg bis dahin gehen muss.

Der Berliner Historikers und Journalisten Sven Felix Kellerhoff von DER WELT, der uns am Montag, den 23.02.2015, einen Vortrag zu „Käthe Kollwitz und der Erste Weltkrieg" hielt, [der vollständigen Text findet sich hier verlinkt] verschaffte einem interessierten Kreis aus Eltern und Schülern, Kolleginnen und Kollegen einen Blick auf ein bekannt geglaubtes Bild der Künstlerin, dem er einige „notwendige Ergänzungen" zufügte.

Gemeinhin kennt man Kollwitz' entschiedene Antikriegs-Haltung der 20er Jahre. Herr Kellerhoff erweiterte allerdings dieses Bild, indem er anhand der Kriegs-Tagebücher nachwies, wie Käthe Kollwitz ihren Sohn im Sommer 1914 zunächst nicht nur unterstützte, sondern auch Fürsprache für ihn bei seinem zögernden Vater hielt. Peter Kollwitz erhielt die ersehnte Erlaubnis in den Ersten Welt¬krieg als Kriegsfreiwilliger zu ziehen – und fand bereits Ende Oktober den Tod. Ergänzt durch weitere zeitgenössische Selbstzeugnisse, entstand in Kellerhoffs Darstellung der Seelenlage der Mutter stellvertretend das Bild einer zunehmend in sich zerrissenen Bevölkerung.
Im Anschluss an den Vortrag ergab sich eine engagierte Diskussion, in deren Verlauf auch die Verantwortung gegenwärtiger Erziehungsberechtigter in ähnlichen Zwickmühlen angesprochen wurde. Der aktuelle Bezug war an unserem Haus nicht von der Hand zu weisen. Unser Dank gilt Herrn Kellerhoff, der sich engagiert der Vielzahl der aufkommenden Fragen widmete.
Auf Initiative der Q11, illustriert durch von Kollwitz' Schaffen inspirierten Werken der Q12 war in unserer Mensa ein Rahmen geschaffen worden, der auch nach Beendigung des Vortrages zum Verweilen einlud, sodass die Zuhörerschaft noch lange Sitzfleisch bewies.

 

Nachfolgend der Vortrag von Herrn Kellerhof in einer gekürzten Fassung.

Käthe Kollwitz und der Erste Weltkrieg

Notwendige Ergänzung eines bekannten Bildes

Was heißt das denn: Notwendige Ergänzung eines bekannten Bildes? Ganz einfach: Das, was man heute in ordentlichen Lexika und natürlich im gar nicht einmal schlechten Artikel der Wikipedia lesen kann über Käthe Kollwitz und den Ersten Weltkrieg, ist nicht falsch. Vermutlich gilt das auch für allerlei Schulbücher, wobei ich die nicht kenne. Dieses Bild muss nicht umgeworfen werden. Aber es ist unvollständig, und es wird umso spannender, nämlich vielfältiger, je mehr man nachträgt. Ein paar Schritte in diese Richtung will ich heute Abend mit diesem Vortrag wagen.

Was ich Ihnen vortrage, beruht auf den Recherchen zu meinem Buch „Heimatfront. Das Ende der heilen Welt – Deutschland im Ersten Weltkrieg“, das vor fast genau einem Jahr erschienen ist. Es hat zum ersten Mal überhaupt systematisch anhand von ausgewählten Orten in Deutschland den Blick auf das Erleben und Erleiden des ersten Großkrieges des industriellen Zeitalters ermöglicht. Nun ist für jede derartige Arbeit die Auswahl der Stichprobe entscheidend. Viel mehr als ein halbes Dutzend Orte, das war von vorneherein klar, ließ sich in einem Buch von rund 300 Seiten und über die ganzen viereinhalb Jahre von Ende Juni 1914 bis Anfang November 1918 nicht bewältigen. Aber welche Orte wählt man aus?

Entscheidend war einerseits die ungefähre Repräsentativität, denn aus der Addition von Spezialfällen ergibt sich zwar auch eine Summe, aber schwerlich eine, die angemessen die Realität wiedergibt. Andererseits braucht man aussagekräftige, spannende Quellen, mit denen man die hoffentlich zahlreichen Leser interessieren kann. Zwei Orte standen von vorneherein fest: Die Reichshauptstadt Berlin war unverzichtbar, ebenso die bayerische Residenz München. Hier konzentrierte sich 1914 bis 1918 das politische Geschehen, erreichte die Revolution in den letzten Kriegswochen und ersten Nachkriegswochen ihren Höhepunkt.

An Quellen herrscht für beide Städte kein Mangel: Für Berlin sind etwa das brillante Kriegstagebuch des Chefredakteurs des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, zu nennen und  die Stimmungsberichte des Berliner Polizeipräsidenten. Für München stellen die bis 1917 überlieferten Tagebücher des Anarchisten und Bohemiens Erich Mühsam die wichtigste Quelle dar, außerdem beispielsweise die Memoiren der großbürgerlichen Frauenrechtlerin Constanze Hallgarten. Hinzu kamen natürlich zeitgenössische Zeitungen, immer eine wichtige Quelle, wenngleich sie zensiert wurden.

Welche Regionen jenseits Berlins und Münchens sollten einbezogen werden, um ein Bild von »Deutschland im Ersten Weltkrieg« zeichnen zu können? Ich entschied mich für Freiburg im Breisgau, ein Hauptziel der im Ersten Weltkrieg noch recht seltenen und ineffizienten Luft­angriffe. Charlotte Herder, die Ehefrau des Verlegers Hermann Herder, hat das Leben dort in ihrem weitgehend vergessenen Kriegstagebuch beschrieben. Außerdem wählte ich die Garnisons­stadt Hildesheim, zu der das aus gewissermaßen externer Perspektive geschriebene Tagebuch von Annie Dröege vorliegt, der britischen Ehefrau eines Deutsch-Briten, der 1914 bis 1917 als »feindlicher Ausländer« interniert war.

Zu Kriegsbeginn lebte nur ein gutes Drittel aller Deutschen in Groß- und Mittelstädten, die Mehrheit aber in Kleinstädten und auf dem Land. Auch diese Regionen sollten vertreten sein. Ich entschied mich daher einerseits für das Dreistädtegebiet Viersen-Dülken-Süchteln am Nieder­rhein, zu dem das rührige Stadtarchiv Viersen vor Kurzem eine umfangreiche Ausarbeitung über den Ersten Weltkrieg vorgelegt hat. Schließlich musste Ostpreußen vertreten sein, 1914/15 das einzige deutsche Gebiet, in dem tatsächlich Kampfhandlungen stattfanden. Für die Landstadt Lötzen existiert – ein absoluter Glücksfall – das Tagebuch der Haushaltshilfe Henriette Schneider. Private Aufzeichnungen von Menschen aus wenig gebildeten Schichten beschränken sich, wenn sie überhaupt überliefert sind, oft auf kaum aussagekräftige Beschreibungen. Henriette Schneiders Tagebuch enthält jedoch auch viele für die politische und ökonomische Situation vielsagende Eintragungen. Anhand dieser sechs Orte von der Metropole bis zur Provinz lässt sich, das behaupte ich jedenfalls, repräsentativ beschreiben, wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten. Nur:

Was hat das mit Käthe Kollwitz zu tun?

Viele von Ihnen werden wissen, dass von ihren Tagebücher der Jahre 1908 bis 1943 einen gute und umfangreiche Edition vorliegt, auch im Taschenbuch, besorgt von Jutta Bohnke-Kollwitz, der Enkelin der Künstlerin. Diese Ausgabe ist nicht überkomplex wie viele philologische Editionen von Schriftsteller- oder Künstlertagebüchern, und sie erlaubt einen tiefen Einblick in Käthe Kollwitz’ Leben. Trotzdem genügen diese Tagebücher nicht, um ein annähernd voll­ständiges Bild des Lebens der Namenpatronin Ihrer Schule in den Jahren 1914 bis 1918 zu zeichnen. Denn vieles, was für unser Verständnis wichtig ist, hat sie als selbstverständlich erachtet und eben nicht notiert. Man muss also für das Verständnis der Zeit, aus der Kollwitz’ Notizen stammen, ergänzend andere Quellen hinzuziehen. Hier schließt sich der Kreis zu „Heimatfront“.

Dabei geht es nicht um die Korrektur des Bildes, das sie zeichnet; nach allem, was ich sagen kann, sind ihre Tagebücher subjektiv ehrlich und quellenkritisch nur selten tiefer zu hinter­fragen. Es geht um die Ergänzung, also um das, was ich heute Abend versuche. Ich will in drei Kapiteln vorgehen, kann aber nur eine Auswahl von Aspekten anbieten – ein Abendvortrag sollte nie Vollständigkeit anstreben, denn sie ist einfach nicht zu erreichen; bei einer so komplexen Figur wie Käthe Kollwitz schon gar nicht, aber auch bei weniger vielschichtigen Menschen wäre es Augenwischerei, dem interessierten Publikum Derartiges zu versprechen.

Also will ich mich um folgende drei Abschnitte kümmern: Augusterlebnis und Peters Weg in den Krieg (I), Peters Tod und die Herausforderung der Trauer (II), schließlich Kriegsende und Revolution (III). Ergänzend zu Kollwitz’ Tagebüchern ziehe ich, auch wenn unsere Protagonistin von 1891 bis 1943 im selben Berliner Mietshaus gelebt hat, an der einen oder anderen Stelle  Beispiele aus München heran – schon um des Lokalkolorits willen. Möglich wäre ein ähnliches Vorgehen auch mit weiteren Beispielen aus der Reichshauptstadt, aber schließlich haben Sie mich ins schöne Oberbayern eingeladen.

I. Augusterlebnis und Peters Weg in den Krieg

Sie kennen sicher das geläufige Bild über Deutschland im Juli und August 1914. Das ganze Land sei einig gewesen, gegen die gefühlte Einkreisung vorzugehen. Nie habe es zwischen allen Schichten so große Übereinstimmung gegeben. Vielleicht haben Sie im vergangenen Jahr aber auch wahrgenommen, dass viele professionelle Historiker Zweifel an dieser tradierten Darstellung angemeldet haben. In der Tat ist sie unvollständig, denn sie unterschlägt die kriegskritischen Demonstrationen vor allem Ende Juli 1914, und sie unterschlägt, dass danach zwar die Kriegsbegeisterung auf den Straßen eindeutig dominierte, es aber auch weiterhin viele Kriegsgegner gab, die sich jedoch aus der Öffentlichkeit zurückzogen.

Für unser gängiges Bild von der Pazifistin Käthe Kollwitz, die extrem eindrucksvolle Kunstwerke gegen den Krieg geschaffen hat, würde man nun erwarten, dass sie sich klar gegen den ja schon damals erkennbaren Irrsinn gewandt hätte, der große Teile Deutschlands erfasste. Doch dem ist nicht so, und Käthe Kollwitz hat diesen Eindruck auch nicht zu vermitteln versucht. Dabei sind mehrere ihrer Tagebucheinträge über August 1914 offensichtlich nachträglich angefertigt – sie hätte also alle Möglichkeiten gehabt, hier bewusst oder unbewusst zu manipulieren. Sie hat es nicht getan.

Karl und Käthe Kollwitz waren im Sommer 1914 beide überzeugte Sozialdemokraten, standen also in Opposition zum preußisch-deutschen Kaisertum, sahen sich aber dennoch als staatstreu. Und so haben sie sich auch verhalten: Sie begrüßten den Krieg nicht, aber unterstützten wie die allermeisten Sozialdemokraten die Mobilisierung und zum Beispiel die Kriegskredite. Übrigens liegt, das sollte man durchaus anerkennen, in dieser Haltung schon ein Sieg der Rationalität über die Gefühlswelt – das können Sie an einem Zitat von Erich Mühsam ablesen, der Anfang August 1914 schrieb: „Ich, der Anarchist, der Antimilitarist, der Feind der nationalen Phrase, der Antipatriot und hassende Kritiker der Rüstungsfurie, ich ertappe mich irgendwie ergriffen von dem allgemeinen Taumel, entfacht von zorniger Leidenschaft, wenn auch nicht gegen irgendwelche ›Feinde‹, aber erfüllt von dem glühend heißen Wunsch, dass ›wir‹ uns vor ihnen retten! Nur: Wer sind sie – wer ist ›wir‹?“.

Wenn sogar ein überzeugter Pazifist wie Mühsam sich mitreißen ließ, ist die Leistung von Käthe Kollwitz, genau dies nicht getan zu haben, umso höher zu bewerten. Freilich darf man auch nicht vergessen: Die beiden Söhne des Ehepaar Kollwitz, Hans (geboren 1892) und Peter (geboren 1896), setzten ihre Eltern Anfang August 1914 unter Druck. Wie sehr viele jedenfalls ihrer Altersgenossen aus bürgerlichen Familien gierten sie danach, sich freiwillig zu melden.

Es gibt abseits von Käthe Kollwitz’ Tagebüchern nur wenige Quellen über Peters Gefühlswelt. Man kann aber in den umfangreichen Tagebüchern und Briefen seines Altersgenossen Otto Braun vieles finden, was sicher auch für Peter Kollwitz gegolten hat. Otto Braun, geboren 1896, war der Sohn der bekannten Frauenrechtlerin Lily Braun und des Publizisten Heinrich Braun – beides ebenfalls bürgerliche Sozialdemokraten wie das Ehepaar Kollwitz. Otto wollte wie Peter und Hans Kollwitz unbedingt Soldat werden. Er notierte: „Ich wollte mich als Freiwilliger melden, Papa nicht dafür, Mama schwieg, litt aber sehr.“ Nach einem nicht dokumentierten Vier-Augen-Gespräch der Eltern gab Heinrich Braun, nach damaligem Recht alleiniger Haushalts­vorstand, schweren Herzens sein Einverständnis.

Ganz parallel war die Situation offenbar im Hause Kollwitz; Käthe notierte am 10. August 1914: „Abends bittet Peter Karl, ihn vor Aufgebot des Landsturms ziehen zu lassen. Karl spricht mit allem dagegen, was er kann. Ich habe das Gefühl des Dankes, dass er so um ihn kämpft, aber ich weiß, es ändert nichts mehr.“ Sie gab das Gespräch gerafft wieder – Karl: „Das Vaterland braucht dich noch nicht, sonst hätte es dich schon gerufen.“ – Peter: „Das Vaterland braucht meinen Jahrgang noch nicht, aber mich braucht es.“ Immer wendet er sich stumm mit flehenden Blicken zu mir, dass ich für ihn spreche. Endlich sagt er: ,Mutter, als du mich umarmtest, sagtest du: ,Glaube nicht, dass wir feige sind, wir sind bereit.’ Ich stehe auf, Peter folgt mir, wir stehen an der Tür und umarmen uns und küssen uns, und ich bitte den Karl für Peter."

Käthe Kollwitz hatte Angst um ihren jüngeren Sohn, der ihr näher stand als der ältere Hans, aber sie akzeptierte seinen Wunsch, Soldat zu werden, obwohl sie die Gefahren sah. Sie kämpfte nicht dagegen. Hätte es sich für Käthe Kollwitz gelohnt, um Peter zu kämpfen? Ihn abzubringen von seinem Wunsch, wäre ihr auf Dauer kaum gelungen. Spätestens nach den verheerenden Verlusten des anfänglichen Bewegungskrieges in Belgien und Nordostfrankreich nahmen die Ersatzabteilung der lokalen Regimenter Ende August und Anfang September 1914 jeden jungen, gesunden Mann, den sie bekommen konnten. Das war übrigens auch die Zeit, in der sich der österreichische Wehrdienstflüchtling Adolf Hitler hier in München zur königlich-bayerischen Armee meldete.

Hätten sich Peter Kollwitz und Otto Braun über den erklärten Willen ihrer Väter hinweg gesetzt? Vielleicht eher nicht, aber man weiß ja, dass Kinder sehr kreativ werden können, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollen. Käthe Kollwitz schrieb in ihr Tagebuch: „Die Jungen sind in ihrem Herzen ungeteilt“ – gemeint ist: ungeteilt für den Krieg. Und was notierte Käthe Kollwitz zu ihren eigenen Gefühlen? „Mir war sehr weh und auch wunder-, wunderschön.“ Beide Mütter jedenfalls, Käthe Kollwitz wie Lily Braun, unterstützten ihre Söhne bei ihrem Weg in die Armee. Dabei gab es sogar eine bemerkenswerte Parallelität. Ich zitiere aus einem Brief von Lily Braun: „Gestern klingelte mich Frau Kollwitz mich an, um auch die Frage der Ausrüstung zu besprechen. Sie hat außer der seidenen Regenweste auch die zugehörigen Hosen besorgt, besonders weil Peter als Infanterist doch viel in Schützengräben liegen muss. Ich will es auch tun.“ Das Gespräch spiegelt sich im Tagebuch von Käthe Kollwitz am 20. August 1914: „Besorge für Peter die Sachen, die er braucht.“

Zu ungefähr der gleichen Zeit sah sich die Berliner  Polizei gezwungen, den Vorwärts »bis auf Weiteres« zu verbieten, dessen kriegsskeptische Berichterstattung auch durch die Zensur nicht völlig unter Kontrolle zu bekommen war. Käthe Kollwitz schrieb in ihr Tagebuch: »So hat man also schon wieder genug von der Einigkeit.« Sie sah allerdings den Versuch des sozial­demokratischen Blattes, den engen Rahmen der vorgegebenen Berichterstattung zu erweitern, kritisch: »Meiner Meinung nach tut der Vorwärts nicht gut daran, in dieser Zeit die prinzipiellen Gegensätze zu betonen. Was hat das für Sinn? Hinterher soll alles wieder vorkommen, aber jetzt beunruhigt es die Genossen nur.« Die Künstlerin wertete ganz im Lichte der Situation ihrer eigenen Familie: »Die Soldaten stehen im Felde und geben ihr Leben. Dann wollen sie nicht angezweifelt haben, ob es auch lohnt, für diese Sache ihr Leben zu lassen.«

II. Peters Tod und die Herausforderung der Trauer

Am 12. Oktober 1914 fuhr Käthe Kollwitz nach Wünsdorf, um Peter zu verabschieden. Sie brachte ihm Goethes Faust in drei Heften mit; er sagte ihr, er komme sicher wieder. Es war das letzte Mal, dass die Mutter ihren Sohn sah.

Sie schrieb ihm Briefe, etwa wenige Tage später: „Vielleicht seid Ihr schon im Feuer. Mein Lieber! - trotzdem Dein Leben jetzt vielleicht stündlich gefährdet ist, trotzdem ich an die Strapazen denke, die Du sicher aushalten musst, ist mir nicht so zentnerschwer zumut wie früher. Vielleicht liegt es daran, dass ich gezeichnet und so den Druck von meinem Herzen auf das Papier weggeschafft habe. Jedenfalls, ich denke an Dich mit fester Zuversicht. Und mit Liebe - Du geliebter treuer Junge.“ Oder, am 19. Oktober 1914: „Mein lieber Junge - bekommst Du unsere Karten? Es ist ein merkwürdiges Gefühl, dass alles was man schreibt, Dich vielleicht gar nicht erreicht.“

Es war dieser Brief, der am 30. Oktober 1914 zurück nach Berlin kam mit der Aufschrift: „Zurück – gefallen.“ Erst viel später erfuhr Käthe Kollwitz, was geschehen war. Peters Einheit war in Flandern zum Sturm auf Diksmuide angetreten. Schon am Abend des zweiten Tages der Schlacht, Peter Kollwitz und sein Kamerad Hans Koch hatten sich an einer Chaussee ein­gegraben, traf ein Geschoss Peter zufällig. Hans Koch schrieb darüber: „Auf einmal kommt ein Geschoß vom Himmel runter durch das Schützenloch, wo man eigentlich gar nicht reinschießen konnte. (...) Es kam in den Mund, ins Herz. Peter sackte zusammen, kein Wort hat er mehr gesagt.“ Seine Kameraden begruben ihn gleich an Ort und Stelle.

Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Peter Kollwitz so gestorben ist. Zwar lesen sich viele Berichte von Kameraden und sensiblen Vorgesetzten an die Hinterbliebenen von Gefallenen so oder ähnlich. Doch in den meisten Fällen starben die Soldaten an der Front des Ersten Weltkriegs einen elendigen Tod, getroffen von Schrapnells, die ihnen ungeheure Qualen verursachten. Um den Angehörigen das Weiterleben nicht noch schwerer zu machen, wurde derlei meist verschwiegen.

Erst nachträglich trug Käthe Kollwitz in ihr Tagebuch unter dem 22. Oktober 1914 ein: „In dieser Nacht ist Peter gestorben.“ Rückblickend muss es ihr wie eine Qual vorgekommen sein, dass sie am 24. Oktober 1914 eine Karte von Peter erhielt, der zu dieser Zeit schon nicht mehr lebte. „Er schreibt, sie hören schon Kanonendonner.“ Und sie fragte sich: „Wo ist Peter? Friert er? Hungert er? Ist er in Gefahr?“. Dabei war er schon tot.

Zehn Tage lang konnte Käthe Kollwitz nach der Todesnachricht gar nichts tun. Sie schrieb auch nichts in ihr Tagebuch. Fortan widmete sie ihr Leben ganz wesentlich der Trauer. Am 1. Dezember 1914 fasste sie den Plan, ein Denkmal für ihren Sohn zu schaffen. Und doch konnte sie sich nicht darauf beschränken. Sie musste, um ihres Mannes Karl und ihres anderen Sohnes Hans willen, weiterleben.

Hans, Medizinstudent, hatte sich zu einer Sanitätseinheit gemeldet. Das bedeutete etwas geringere Gefahr, denn Sanitäter wurden seltener an der Front verheizt. Ungefährlich war der Dienst in Feldlazaretten aber auch nicht – immer wieder mal schlug ein verirrtes Artillerie­geschoss in einer Krankenstation ein. 1915 kam Hans auf Heimatbesuch. Käthe Kollwitz schrieb: »Schreck und Freude (...) Am Tage alles für ihn vorbereitet. Merkwürdig, wie sein Kommen bei aller Freude auch immer so heftig den Schmerz um das Nichtkommen des anderen erregt. Alles ist dann wieder so aufgewühlt.« Sie hielt ihren ersten Eindruck vom heimgekehrten Sohn fest: »Der Hans ist da. Gestern Nacht um zwölf Uhr kam er auf dem Friedrichstraßen­bahnhof an. Feldmarschmäßig. Er sieht gesund und frisch aus, sein Wesen ist ruhig und gut.«

Zuerst fiel Käthe Kollwitz wenig Veränderung an ihrem Älteren auf: »Still ist er immer, aber man muss sich daran gewöhnen. Er war ja auch früher still. Nur damals war der Peter dabei und dadurch war alles ganz anders. Der sprach und es war immer Bewegung und Lustigkeit.« Schon wenige Tage später bemerkte die Künstlerin, dass Hans sich im Militärdienst doch stärker verändert hatte: »Der Junge. Wie ist er? Mitunter scheint es mir, dass er geistig etwas Totes hat. Er denkt wohl nicht viel und nicht gern. Sein Leben dort bestand in Erfüllung praktischer Pflichten. Die hat er tüchtig erfüllt. War es damit zu Ende?« Sie machte sich düstere Gedanken: »Es ist mir alles so dunkel bei ihm. Im Winter und Sommer vor dem Kriege war er geistig belebt. Hat er jetzt überhaupt noch die Absicht, mit seinesgleichen geistig zu arbeiten? Mir scheint: Nein.«

Vermutlich spürte Hans, dass seine Mutter mit ihm fremdelte. Bei einem Ausflug versuchte er jedenfalls, seine Probleme anzusprechen: »Er habe vor allem mit sich zu tun, um den Druck loszuwerden, der auf ihm laste. Der seit Peters Tod auf ihm laste«, hielt Käthe Kollwitz seine Klage fest, doch beruhigte sie das keineswegs: »Wie schwer, unnatürlich schwer Hans das Reden fällt. Kann er nicht oder will er nur nicht?« Die Trauer um den gefallenen jüngeren Sohn absorbierte Käthe Kollwitz’ Kraft weitgehend: „Es kommen Zeiten, wo ich Peters Tod fast nicht mehr fühle. Es ist ein gleichgültiger Seelenzustand, ich fühle statt einem Gefühl Leere. Dann kommt allmählich ein dumpfes Sehnen, endlich dann bricht es durch, dann weine ich, weine ich, dann fühle ich wieder mit meinen ganzen Körper, meiner ganzen Seele, dass der Peter tot ist.“

Der persönliche Verlust hatte Käthe Kollwitz zur Pazifistin gemacht. Über das Tagebuch 1916 schrieb sie zum Beispiel schlicht: „Krieg. Immer noch.“ Über die Beschwernisse des alltäglichen Lebens erfährt man aus Käthe Kollwitz’ Tagebüchern vergleichsweise wenig. Auch wenn ihr Mann Arzt war und sie selbst eine begehrte Künstlerin, waren sie keineswegs wohlhabend. Vielleicht erschienen ihr solche praktischen Sorgen neben dem Verlust des einen Sohnes, der Sorge um den anderen, der Trauer nebensächlich.

Tatsächlich aber dürfte sie Ähnliches, eher deutlich Schlimmeres erlebt haben als die Münchnerin Constanze Hallgarten. Die Pazifistin und reich verheiratete Tochter aus großbürgerlichem Elternhaus schrieb im Rückblick auf 1917: »Unsere Nahrungs­mittel­versorgung, besonders in großen Städten, wurde äußerst knapp, unsere Ernährung immer magerer. Auch in den wohlhabenden Familien wurde das rationierte Brot den Kindern, wenn sie morgens zur Schule gingen, auf der Briefwaage vorgewogen.«

Constanze Hallgarten beriet sich mit Freundinnen, wie man der Unterversorgung der eigenen Kinder, aber auch der Hausangestellten abhelfen könne: »Wir sahen vorerst keinen Weg – was sollte werden? Von da ab lernten wir ›hamstern‹, d. h. Nahrungsmittel wie Butter, Mehl, Eier, Speck und Schinken, die in der Stadt streng rationiert waren, von den Bauern auf dem Land direkt zu kaufen oder durch ›Schleichhändler‹ kaufen zu lassen. Dies war natürlich ganz illegal und es stand Strafe darauf, aber es bürgerte sich allmählich ein.« Allerdings war sich Constanze Hallgarten, im Gegensatz zu anderen Angehörigen der Oberschicht, ihrer privilegierten Stellung bewusst: »Die Wohlhabenden konnten die oft fantastischen Preise, die gefordert wurden, zahlen. Aber die meisten Menschen in den großen Städten konnten das nicht. Sie hungerten und magerten ab.« Vor allem im Rübenwinter 1916/17, als die Versorgung mit nahrhaften Lebensmittel fast völlig zusammenbrach, bestimmte der Hunger den Alltag vieler Menschen in deutschen Großstädten. Bis zu eine halbe Million Zivilisten in der Heimat verhungerten im Ersten Weltkrieg.

III. Revolution

Doch entgegen aller Unzufriedenheit änderte sich politisch auch 1917 wenig bis nichts. Zu einer Solidaritätskundgebung mit den russischen Revolutionären am Totensonntag 1917 kamen gerade einmal anderthalbtausend Teilnehmer. Sie wollten zum Berliner Stadtschloss vor­dringen. Eine erste Polizeikette konnte sie nicht aufhalten und eine zweite wurde zurück­gedrängt; dann kam es zu Gewalt. Käthe Kollwitz nahm an der Kundgebung teil und notierte konsterniert: »Sie endete in Zusammenstößen in der Kaiser-Wilhelm-Straße mit der Polizei. Schutz­leute zogen blank. Hass und Wut auf beiden Seiten. ›Bluthund‹. Ging mit ekligem Gefühl zurück. Demonstrationen, die so enden, haben wenig Wert. Man läuft vor den blanken Säbeln, schimpft und geht doch auseinander. Natürlich. Wer will sich da kaputthauen lassen?«

Ende Januar 1918 legten dann die Beschäftigten in Berlin, München und andernorts die Arbeit nieder. »Seit drei Tagen Streik der Munitionsarbeiter. ›Frieden – Freiheit – Brot‹. Heute ging ein großer Zug vom Bülowplatz aus, wo Schutzleute räumten, durch die Prenzlauer Allee«, schrieb Käthe Kollwitz. Sie telefonierte mit einer Freundin und erfuhr, dass es »bei Zusammenstößen mehrere Tote, zwei Schutzleute und einige Streikende« gegeben habe. Eine offene Konfrontation mit der Staatsmacht wie in Berlin wollte die SPD in München vermeiden. Die USPD, angeführt von Kurt Eisner, sah jedoch ihre Chance, die pragmatische Konkurrenz auszustechen. Er sprach vor einigen Hundert Mitarbeitern der Münchner Krupp-Werke. Eisner überzeugte genügend der Anwesenden, die für den 31. Januar 1918 die Niederlegung ihrer Arbeit beschlossen. So griff der Januarstreik auch auf München über, Arbeiter in einem halben Dutzend Betrieben traten in den Aus­stand – allerdings insgesamt nicht einmal 10 000 Männer und Frauen. Der bayerischen Polizei bereitete es keine Schwierigkeiten, Kurt Eisner festzunehmen, den »geistigen Leiter und Orga­ni­sa­tor der Ausstandsbewegung in München«, wie der zuständige Staatsanwalt schrieb. Noch war die Zeit nicht reif für die Revolution, in München so wenig wie in Berlin.

Ich springe jetzt in den Herbst 1918. Käthe Kollwitz schrieb am 1. Oktober nach der deutschen Bitte an US-Präsident Woodrow Wilson, einen Waffenstillstand mit Großbritannien und Frank­reich zu vermitteln: „Deutschland steht vor dem Ende. Widersprechendste Gefühle.“ Obwohl sie längst eine erklärte Kriegsgegnerin war, notierte sie: „Deutschland verliert den Krieg. Was kommt nun? Wird das patriotische Gefühl noch einmal so aufflammen, dass eine Verteidigung bis zum Letzten einsetzt?“. Diese Aussicht machte ihr Angst – nicht nur, aber sicher auch, weil ihr Sohn Peter gefallen war: „Die Jugend, die noch lebt, muss Deutschland behalten, sonst verarmt es absolut. Darum nicht einen Tag weiter Krieg, wenn man erkennt, dass er verloren ist. Freilich, bis sich das wirklich entschieden hat, Kampf. Damit wenn möglich ein erträglicher Friede zustande kommt.“ Zwei Wochen später, das Hohenzollernreich befand sich noch im Schockzustand,  kam die Antwort auf das deutsche Waffenstillstandsangebot: »Böse Ent­täuschung. Die Stimmung für Verteidigungskrieg bis zum Ende wächst«, kommentierte Käthe Kollwitz: »Ich schreibe dagegen.«

Spannend ist, dass Käthe Kollwitz, trotz ihres persönlichen Verlustes und ihres inzwischen unzweifelhaften Engagement gegen den Krieg, immer noch von verschiedenen Gefühlen zerrissen wurde. Es ist eben nicht so einfach, dass man als Pazifist immer genau weiß, was richtig ist. Jedenfalls nicht, wenn es sich um praktische Erfahrungen des Lebens handelt und nicht nur um schiere Theorie. Diese Einsicht gehört zu den vielen, die man bei der Lektüre von Käthe Kollwitz’ Tagebüchern und einiger begleitender Quellen machen kann.  Mir scheint, in den gängigen Darstellungen ihres Lebens kommt dieser Aspekt zu kurz. Man sieht zu wenig ihre Zerrissenheit. Deshalb habe ich es für sinnvoll erachtet, das gängige Bild ein wenig zu ergänzen. Es ist wie immer: Je genauer man hinschaut, desto komplizierter sieht die Wirklichkeit aus. Mehr als einen winzigen Einblick konnte und wollte ich Ihnen hier nicht geben. Ich hoffe, es hat Sie zum Nachdenken angeregt. Schließen möchte ich mit einem Eintrag vom 9. November 1918. Käthe Kollwitz notierte nämlich über eine Versammlung am Reichstag: »Von einem Fenster herab ruft Scheidemann die Republik aus.«

München im Februar 2015,
Sven Felix Kellerhoff